Autismus x Autotune

„Mauli, wach auf! Die Leute warten auf Dich. Wach auf, Mauli! Wir müssen los. Es wird Zeit.“ Der Junge, den sie Spielverderber nannten, zerrte am Arm des Schlafenden. Vor Jahren waren sie angekommen in dieser Höhle, in der sie Zuflucht vor dem Unwetter gefunden hatten. Damals war der Junge, den sie Mauli nannten, sofort in einen traumlosen Schlaf gefallen. Vollkommen erschöpft von den Strapazen, die ihm sein Auftauchen in der Öffentlichkeit beschert und dem Hate, den er selbst gestreut hatte sowie den Missverständnissen, die ihm entgegengeschlagen waren. Lange Zeit hatte er wirklich gedacht, dass die Leute seine Musik, seine Originalität und sein Genie gefeiert hätten. Als er dann aber erkennen musste, dass es lediglich die billigen Gags waren, die Nennung einiger unbedeutender Namen von noch unbedeutenderen Rappern, die zu den Begeisterungsstürmen beigetragen hatten, da brach es ihm beinahe das Herz. Natürlich hatte er von Anfang an gewusst, worauf er sich da einlassen würde und dass dieses Game, das sie Musikindustrie nannten, nichts war für Idealisten und Künstler und schon gar nichts für Leute, die nach so etwas wie dem Wahren und Echten suchten. Natürlich hatte auch er gesehen, wie Blender und Vollidioten an ihm vorbei gezogen waren, nur weil sie zum hunderttausendsten Mal über Felgen, buntes Papier und Frauenärsche erzählt hatten … und trotzdem. Eine gewisse Enttäuschung hatte sich trotz all des Wissens breit gemacht in ihm, sich ausgebreitet, wie schwarzer Teer, der sich über seine Seele gelegt hatte, über sein Leben, sein Herz, seine Kunst. Und der Aufstieg durch den dunklen Wald, hinein in die schroffe Felslandschaft noch weiter oben war ihm schwerer und schwerer gefallen, bei jedem Schritt, den er ging, bei jedem Meter, den er zurücklegte.

Als ihn der Spielverderber entdeckte, war er schon halbtot. In der Welt aus bunten Bildern, in der es nur noch darum ging, sein Leben zur Schau zu stellen, das neue Auto, den geilen Urlaub, die neuesten Sneaker, das unfassbare Essen und das noch unfassbarere Life, drohte er verloren zu gehen. Unaufhörlich prasselten diese Aufforderungen, mitzuhalten auf einen ein, ohne dass man sich wehren konnte. Unablässig sickerten die giftigen Dosen der Marken und persönlichen Eitelkeiten in sein Gehirn und fast schien es ihm so, als würden diese von Stunde zu Stunde mehr werden. Alte Helden verloren ihre Magie und Anziehungskraft, weil man ihnen auf Schritt und Tritt folgen konnte – folgen sollte Die Banalität der bloßen Existenz wurde offensichtlich, auch bei jenen, die er einst bewundert hatte. Rolex hier, Malediven da und alle waren sie gut drauf, selbst wenn ihre Augen hohl und leer geworden waren. Und die anderen machten mit, versuchten mitzuhalten und zeigten ebenfalls ihre bemitleidenswerten, crazy Leben. Und alle langweilten sich. Und alle langweilten sie ihn, so dass er tatsächlich fast die Orientierung verloren hätte, hätte ihn der Junge, den sie Spielverderber nannten, nicht gefunden und in diese Höhle gebracht. Halb benommen erkannte er das einfach Bett, das Lager, die Aufnahmekabine und das Mikrofon. Stein schwer legte er sich nieder, voll von Müdigkeit. Er wollte nicht mehr, er konnte nicht mehr und traumlos legte sich der Schlaf über ihn.

So lag er da. Lange. Doch irgendwann wurde es Zeit. Der Spielverderber hatte ein Feuer gemacht und den alten Dieselgenerator angeworfen. Das Mic summte leise vor sich hin und die Aufnahmegeräte waren gestartet. Der Junge, den sie Mauli nannten, setzte sich an die verschiedenen Maschinen und begann in den Tiefen der einzelnen Sounds zu wühlen. Er hatte keinen bestimmten Plan in seinem Kopf, doch er wusste, wohin sein Herz ihn führen wollte. Er probierte aus, verwarf und startete von Neuem. Ideen durchzogen seinen Geist und geronnen zu kompakten Melodien. Nein. Er wollte keine Namen mehr nennen. Er wollte keinen Ruhm, der auf billigen Gags gründete. Wenn die anderen ihn nicht verstehen würden, dann müsste er das halt so hinnehmen. Es war ihm zwar wichtig, doch es lag nicht in seiner Macht. Langsam würde er sein und vorsichtig. Suchend würde seine Stimme sein und doch bestimmt, wenn er die Dinge gefunden hätte, die er aussprechen wollte. Einfache Dinge würden es sein und richtige Dinge. Je mehr Zeit verstrich, desto sicherer wurde er. Je öfter er sich in das verschlungene Dickicht seiner selbst wagte, desto besser kannte er sich darin aus und irgendwann war er tatsächlich fertig. Mit einem Lächeln im Gesicht drehte er sich um und wollte dem Spielverderber sein Ergebnis präsentieren. Doch der Junge, den sie Spielverderber nannten, war verschwunden. Er war weg und kehrte auch nicht wieder.
Zurück blieb der Junge, den sie Mauli nannten, der ein neues Album gemacht hatte.

Autismus und Autotune erscheint am 20.04.2018.

Autismus und Autotune ist ein großartiges Album geworden. Ein einzigartiges Album. Ein Meisterwerk.

Marcus Staiger