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Tocotronic

Sie haben uns von Sehnsucht und Abscheu gekündet, von Zügellosigkeit und Erschlaffung. Sie haben uns die schönsten Merksprüche geschenkt und die lieblichsten Selbstzweifellieder. Sie haben uns die Wonnen des autoerotischen Näselns gelehrt und die Widrigkeiten der politischen Selbstvergewisserung vertont. Sie haben deklamiert und gelockt, gerockt und zugleich der Rockmusik den machistischen Boden entzogen. Und sie haben immer verdammt gut ausgesehen dabei.

Seit zwanzig Jahren bringen Tocotronic nun schon Langspielplatten heraus, und hat es in den letzten zwanzig Jahren für uns keine andere Gruppe gegeben, die sich so schön und so kühn durch die musikalischen Stile bewegt – und durch die politische Realität ihres Landes und ihrer Generation. Keine andere Band hat sich so kontinuierlich selbst neu erfunden; keine andere Band ist so konsequent auf der Reise geblieben. Keine andere Band wirkt denn auch nach zwanzig Jahren noch immer so herausfordernd und frisch, so jugendlich und weise zugleich.

„Digital ist besser“ heißt die erste Platte, mit der Arne Zank, Jan Müller und Dirk von Lowtzow 1995 in Hamburg die Bildfläche betreten, ein monumentales Werk jugendlicher Erschöpftheit und euphorischen Ungestüms, getragen von dem unbeirrbaren Willen, nicht dazugehören zu wollen sowie andererseits von der unstillbaren Sehnsucht, Teil einer Jugendbewegung zu sein. Es geht um Fahrradfahrer und Tanztheater und um das Gefühl, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein; auf dem wenige Monate später folgenden zweiten Album „Nach der verlorenen Zeit“ geht es dann auch um die Liebe und um die Möglichkeit, dass es sie gibt.

Aus der Asche der gerade verglommenen Hamburger Schule steigen Tocotronic wie ein Phoenix empor, eine ganze Generation lernt ihre Lieder auswendig und ahmt ihre asymmetrischen Haarschnitte nach; das postironische Tragen von Trainingsjacken etablieren sie als Modetrend. Mit ihrem dritten Album „Wir kommen um uns zu beschweren“ werden sie 1996 endgültig zu Superstars, die erste Band, die es aus der kleinen Welt des deutschsprachigen Diskurspop in die ganz großen Hallen und Stadien schafft: Avantgarde für die Massen. Auf der vierten Platte „Es ist egal, aber“ reichern sie 1997 ihren ungestümen Gitarrenrock erstmals mit Mundharmonika und Streichern an: Damit, so könnte man vielleicht sagen, schließen sie ihre erste Werkphase ab.

Ihre zweite Werkphase beginnt 1999 mit „K.O.O.K.“, einer wuchtigen, schwarzen und von Zweifel benagten Platte, futuristisch und nostalgisch zugleich; die Hitze der klassischen Rockmusik prägt sie ebenso wie die Kälte des Weltalls und der Entfremdung zwischen den Menschen. „Das Unglück muss zurückgeschlagen werden“ heißt einer der Hits auf dem Album, ein geflügeltes Wort bis heute. Zum ersten Mal singen Tocotronic von Einsamkeit. Auf dem „Weißen Album“ überwinden sie 2002 dann den musikalischen Minimalismus älterer Tage mit einer opulent orchestrierten, farbig verrätselten Platte, in der Realismus und Fantasie sich miteinander versöhnen: „Eins zu eins ist jetzt vorbei“. Oder um es mit dem Titel des folgenden Albums aus dem Jahr 2005 zu formulieren: „Pure Vernunft darf niemals siegen“. Ab nun gehört Rick McPhail als viertes Mitglied zur Gruppe, und bereichert ihre Musik mit seinen blumig erblühenden Gitarrenfeedbacks.

Der nächste Abschnitt des Tocotronic’schen Schaffens beginnt 2007, in dem Jahr, in dem ihr vorläufiges Meisterwerk erscheint: Kapitulation ist ohne Frage die wichtigste deutschsprachige Pop-Platte der Nullerjahre, eine musikalische und lyrische Großtat, die von den Wonnen der Selbstaufgabe erzählt und vom Glück der eigenen Unterwerfung. Die Selbstwidersprüche unserer Existenz, die unauflösbare Dialektik von Müssen und Wünschen bringen Tocotronic nun mit immer größerer Schönheit und Gelassenheit zu Gehör, auf dem folgenden 2010er Werk „Schall & Wahn“ ebenso wie auf ihrem bislang letzten Album, „Wie wir leben wollen“ aus dem Jahr 2013. Darauf geht es ums Altern, um das Glück der Reife und um die Überwindung des Todes; damit kommt die dritte Werkphase – manchmal als „Berliner Trilogie“ etikettiert – denn auch zu einem Abschluss. Wovon wird also das „Rote Album“ erzählen, mit dem Tocotronic im Jahr 2015 wieder von vorne beginnen? Zwanzig Jahre lang währt der Bildungsroman dieser einzigartigen Gruppe nun schon, und doch ist sie auch nach all dieser Zeit immer noch dort, wo man im Offenen ist.

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