Anarchie & Alltag

Andere Bands haben Fans, aber wir haben eine Stadtguerilla: „Anarchie und Alltag“ von der Antilopen Gang
Trommelwirbel und Fanfaren: Die Antilopen Gang ruft wieder den Ausnahmezustand aus. Zwei Jahre nach ihrem Debütalbum „Aversion“ und ein Jahr nach dem Mixtape „Abwasser“ gießen Danger Dan, Koljah und Panik Panzer mit ihrer neuen Wunderwaffe, dem Album „Anarchie und Alltag“, abermals Öl in das ausgebrannte Feuer der hiesigen HipHop-Landschaft. In zwei turbulenten Jahren etablierte sich die Gang genreübergreifend als gewichtige, nicht mehr wegzudenkende politische Stimme und subversive Kraft. Zwischen gewonnenen Preisen oder Rechtsstreitigkeiten und weit über hundert immer wieder ausverkauften Konzerten sammelte sie nun genug Munition, um wieder zum Angriff überzugehen.
Dabei beleuchtet die Antilopen Gang Lebenswege von Rechtspopulisten, Gotteskriegern und gealterten Stadtguerilleros genauso, wie sie sich Gedanken über die Umwandlung von Deutschland zu einem Baggersee macht und das revolutionäre Potential von Pizza untersucht. Selten hat man zudem eine anrührendere Analyse über ein exterrestrisches Phänomen wie ALF gehört, und Fatoni und Schorsch Kamerun gleichzeitig auf einem HipHop-Album unterzubringen, muss man auch erstmal hinkriegen.

Auf „Anarchie und Alltag“ geht es einmal mehr um Gott und die Welt: einen Gott, der nicht existiert und eine Welt, die falsch eingerichtet ist. Sich selbst in einem Trojanischen Pferd wähnend und als psychotisches Patientenkollektiv beschreibend, taumeln die Antilopen elegant durch ein hoch referenzielles Labyrinth der Absurditäten, Analysen und Aversionen. Zwischendurch wird es persönlich, ansonsten klopft man aberwitzige Sprüche, die irgendwo zwischen Selbstüberhöhung und Selbstkasteiung changieren und kein Auge trocken lassen – unklar bleibt, ob vor Weinen oder vor Lachen. Dass der Gang weiterhin eine geistige Nähe zum Punk attestiert werden kann, macht nicht nur die Fehlfarben-Referenz im Albumtitel mehr als deutlich. Doch trotz kurzer Genreausflüge stellen die Antilopen auf „Anarchie und Alltag“ erneut unter Beweis, dass sie auf dem Rapfilm hängengeblieben sind. So entstand in Zusammenarbeit (die Co-Produzententätigkeit ließen sich die Antilopen wie immer nicht nehmen) mit HipHop- Legende Roe Beardie ein modernes Rap-Album, das sich musikalisch so ausgetüftelt zeigt wie keine Antilopen- Veröffentlichung zuvor. Welt, nimm dich in Acht, die Gang ist wieder da.
Die Antilopen Gang besteht aus Koljah, Danger Dan und Panik Panzer. Im Gegensatz zu anderen Gangs beanspruchen sie kein bestimmtes Territorium, jedoch haben auch sie gangtypische Erkennungszeichen wie Tätowierungen, Sprachcodes und einen eigenen Humor. Und wie in jeder Gang sind all ihre Mitglieder Brüder. Panik Panzer und Danger Dan sogar leibliche.
Die Wege der heutigen Antilopen Gang kreuzten sich 2003 auf dem Gründungstreffen eines linksradikalen HipHop- Netzwerks. Gemeinsam glaubte man damals ernsthaft, reaktionären Tendenzen des Genres entgegentreten zu können und brachte regelmäßig Rap auf die Bühnen alternativer Jugendzentren und vergammelter Punkschuppen im gesamten Bundesgebiet.
Als Koljah, Danger Dan und Panik Panzer 2009 zusammen mit ihrem Freund NMZS die Antilopen Gang gründeten, hatten sie ihre eher platten Polit-Rap-Bemühungen längst hinter sich gelassen. Agitation und Parolen waren nun erfolgreich gegen Adlibs und Punchlines eingetauscht worden.

Die chaotische, aber verhältnismäßig heile Welt der Antilopen Gang wurde 2013 durch eine Tragödie erschüttert: Der schwer depressive NMZS nahm sich das Leben. Dieses schreckliche Ereignis markierte einen Wendepunkt im Selbstverständnis der Band. Ganz bewusst und auch auf den Wunsch des verstorbenen Freundes hin, löste sich die Gang nicht auf, sondern es bildete sich bei den verbliebenen Musikern eine „Jetzt erst recht“-Mentalität heraus. Befeuert von diesem Ehrgeiz fasste die neue Antilopen Gang den Entschluss, fortan alle Soloaktivitäten der Gang unterzuordnen, und so bald wie möglich das gemeinsame Albumdebüt zu realisieren.

Kurz zuvor landeten die drei Antilopen durch bizarre Koinzidenzen ausgerechnet bei JKP, dem bandeigenen Label der Toten Hosen, die den drei Desperados volle Handlungsfreiheit für ihre musikalisch-konspirative Wühlarbeit zusicherten.

Aversion“ schlug im Herbst 2014 ein wie ein Bombe: Mit ihrem innovativen HipHop-Ansatz konnte die Gang nicht nur in dieser Szene punkten, sondern auch aufgeschlossene Hörer anderer Musikrichtungen begeistern.

Als „beste Hip Hop-Crew dieses kaputten Landes“ feierte das Intro-Magazin die Antilopen Gang, als diese 2014 mit ihrem Albumdebüt nicht nur die Rap-Szene bis ins Mark schocken konnte.

Ihr Spektakel aus HipHop, Punk, Politik und Pop war auch ein lyrischer Fausthieb in die hässliche Fratze von Corporate Rap und gleichgeschalteter Konsensmusik jedweder Couleur, eine Kampfansage an Authentizität heuchelnde Langweiler und besorgte Querfrontbürger aus allen Himmelsrichtungen.

Live entwickelte sich die Antilopen Gang zu einem Aufreger und Publikumsmagneten erster Güte: Mit ihrer energiegeladenen, provokanten Show zählen sie zu den großen Innovatoren der heimischen Rap-Szene. Befeuert von Kritikerlob und steigender Popularität räumten die Antilopen in den folgenden Monaten einen Preis nach dem anderen ab, bevor sie mit dem Mixtape „Abwasser“ 2015 ihren ureigenen Welteroberungszyklus stilecht abschlossen:

Wie in alten Zeiten stellten die Antilopen das Mixtape, welches ausschließlich ihrer eigenen Belustigung diente, als Free Download zur Verfügung. Kein roter Faden, kein Schnickschnack, aber ein paar gute Sprüche, dezent große Schnauze und polternder Wahnwitz. Alles ist aus Abwasser, alles ist aus!

Mit „Anarchie und Alltag“ hat die Antilopen Gang nun ihren langen Marsch wieder aufgenommen.