Vergessen Sie, was Sie bislang über Nerina Pallot wussten, angefangen mit dem Label Singer/Songwriter, das ihr meist verpasst wird. Weg damit. Die Pianoballaden bitte auch vergessen und den Groove der Bernard Butler-Produktion von 2011 lassen wir beiseite. Ihre großartige Stimme – die behalten wir mal im Kopf. Das neue Album als simple Ab- kehr von den vier Vorgängeralbum zu beschreiben ist ein bisschen zu zahm. Wenn Nerina Pallot es als ihr mid-life crisis Album beschreibt, ist das natürlich ein Witz. Wenn sie sagt, es ist ihre glücklichste Songsammlung, dann meint sie es ernst. Also einlegen und anhören und Sie werden sich fragen, ob diese Stimme wirklich Nerinas ist.
The Sound And The Fury ist, wie der Titel andeutet, ein heftiges Album. Es ist kühn, bluesig, stürmisch, teilweise aggressiv und trotzig. Atmosphärisch knisternd, elektronisch unterfüttert und mit Themen wie Tod und Verzweiflung aufgeladen – verführerisch schön, aber auch verstörend dunkel. Und so anders als alles, was Nerina Pallot zurvor ge- macht hat.
Die elf Songs wurden von Ereignissen beeinflusst, die Nerina, ein wahrer News Junkie, durch die täglichen Nachrichten aufsog. Alles begann im Frühjahr 2013 – mit dem Tod von Margaret Thatcher und dem Roman „The Road“ Cormac McCarthy. „Ich bin auf Jersey aufgewachsen und nicht direkt mit der Politik Großbritanniens betroffen“, erzählt Nerina. „Aber als ich nach London zog, gab es die poll tax riots und ich erinnere mich, wie aufgebracht die Leute waren. So hat mich die Wut bei Thatchers Tod nicht wirklich überrascht. Zwar habe ich mich nicht damit wohl gefühlt, dass man Flaggen und Fotos von ihr verbrannte, um ihren Tod zu feiern, aber ich habe verstanden, warum man so reagierte, wo sie uns doch ein so giftiges Erbe hinterlassen hat.“
Zu etwa der gleichen Zeit trat sie bei BBC Radio 4 in der Sendung „The Good Read“ auf, um aus McCarthys post- apokalyptischen Roman „The Road“ zu lesen. „Das Buch ist außergewöhnlich – düster und beängstigend. Im Mittel- punkt steht ein Vater mit seinem Sohn, der versucht auf einem dystopischen Planeten zu überleben, wo die Menschen zu Kannibalen geworden sind. Es geht letztendlich darum, seine moralischen Grundsätze aufrecht zu erhalten, auch wenn alle anderen es nicht mehr tun.“
So entstanden die ersten beiden Songs für das Album – „The Longest Memory“ (Track 11), eine Studie über Leben und Tod, musikalisch beeinflusst von Johann Johannsson, den Nerina sehr schätzt, und „The Road“ (Track 10), einer dunklen, bluesigen Ode mit hypnotischen Beats über Selbstbestimmung.
Lange hatten Nerina zusammen mit ihrem Produzenten (und Ehemann) Andy Chatterley das neue Album geplant und dafür experimentiert. Es gab den gemeinsamen Wunsch, mehr zu den elektronischen Wurzeln zurück zu kehren. „Was viele nicht wissen ist, dass ich mit Dance Music und Jazz angefangen habe“, erzählt Nerina. „Als ich nach London zog, spielte ich Keyboards auf House Alben, hörte Hip Hop und hing im Subterranea rum. Andy war aus der House Szene. So schlug ich vor, ein wenig wieder dorthin zurückzukehren. Er meinte, man würde mich für verrückt halten.“ Sie einigten sich darauf, sich an der elektronischen Musik anzulehnen, die sie für andere Künstler geschrieben und pro- duziert hatten.
Ein anderer Einfluss war die Entdeckung von Nina Simone: „Während wir für andere Künstlerproduzierten, entdeckte ich den Blues für mich, insbesondere Nina Simone. Ich war besonders von dem Album besessen, das bei Ronnie Scotts live aufgenommen worden war. Man kann es mit einem Genre nicht zutreffend beschreiben – es ist eine Frau, die Sprache ehrlich und eher sparsam einsetzt, aber genau ins Herz des Songs trifft.
All das floss in „The Road“ ein – ich wollte einfacher und weniger wortreich auf den Punkt kommen. Der Song beginnt mit einem dunklen Beat von Andy. Dann singe ich eine Melodie ohne Harmonie, sehr ungewohnt für mich. Als der Song Gestalt annahm, haben wir noch Geräusche und ein Summen hinzugefügt, damit es klingt, als ob die Luft elek- trisch aufgeladen ist.”
Kurz nachdem sie mit der Arbeit am Album begonnen hatten, wurde Lee Rigby (Angehöriger der britischen Armee, dort ein Trommler) auf offener Straße in Woolwich getötet. Noch am gleichen Tag schrieb Nerina „There Is A Drum“, mit dem das Album beginnt. „Es war so schmerzlich. Ich bin in der Gegend in London geboren, wo Lee Rigby starb. Dort gibt es eine große afrikanische und indische Community. Dorthin war meine Mutter gezogen, als sie aus Indien einwanderte. Ich schrieb den Song, um mit der Situation klar zu kommen. Es war alles so unwirklich. Noch immer kann ich keinen Grund für den Mord erkennen. Es hatte nichts mit Religion oder der verfehlten britischen Politik zu tun. Es war einfach ein kaltblütiger Mord.“
Nun hatten Nerina and Andy drei Songs für ein künftiges Album geschrieben, dann folgte ein heftiges Jahr. 2014 war Nerina viel auf Tour und es wurde ihr Jahr der EPs. Sie schrieb und veröffentlichte jeden Monat eine EP mit fünf Songs, inklusive Artwork, das sie auch noch selbst machte. Warum? Sie wollten einfach alles anders machen. „Mein letztes Album war bei einem Major Label, was in gewisser Hinsicht sehr einschränkend ist,” erzählt Nerina. „Die Musikindus- trie hat sich verändert. Heutzutage kann man machen, was man will. Und ich habe eine sehr loyale Fanbasis. Bevor ich mit diesen drei radikal anderen Songs an die Öffentlichkeit gehe, wollte ich, dass die Fans den Übergang von der alten zur neuen Musik mitbekommen und mir ihr Feedback dazu geben.“
Die acht anderen Songs auf The Sound And The Fury waren also zunächst auf diesen 12 EPs zu finden. Am Ende eines hektischen Jahres wählten Nerina und Andy die Tracks aus, die sie und ihre Fans am meisten mochten, und nahmen sie noch einmal auf, diesmal mit Geigen, zusätzlichen Musikern etc.
Absoluter Favorit der Fans ist der Song „Rousseau“ (Track 3), von einer Stakkato-Gitarre und Geigen getragen und in- spiriert von Henri Rousseau, Jean-Jacques Rousseau und Joni Mitchell’s „The Hissing of Summer Lawns“. Das sinnliche, gewundene „If I Had A Girl“ (Track 4) ist eine feministische Polemik, in der Nerina sich vorstellt was wäre, wenn sie eine Tochter statt eines Sohnes hätte. „Boy On The Bus” (Track 5) ist schimmernd, baut sich langsam auf und bricht einem das Herz und handelt vom Verlassen der Stadt. Dem Song liegen Geschichten vom Tod zweier junger Mädchen zugrunde, beides in Nerinas unmittelbarer Umgebung geschehen. In „Big White House“ (Track 8), einer schönen Soul- nummer, singt Nerina im Stil ihres Idols Jill Scott, „Handle“ (Track 6) ist eine Reminiszenz an James Blake und „Spirit Walks“ (Track 7) ist ein verzaubernder Bluessong, der ihr im Traum eingefallen ist und sie aufweckte.
The Sound And The Fury ist ein Album voller Geschichten aus der Stadt, es geht um Liebe, Verlust und Überleben wie auf jedem Album, das einem zu Herzen geht. Die Songs erzählen von einer Frau und ihrer Sorgen um ihre Familie, aber es geht auch darum, wo die Welt jetzt steht und was die Zukunft bringt.
Das erste Video ist zu „The Road“ entstanden und wurde bereits in der Tageszeitung THE GUARDIAN gewürdigt. Ursprünglich als Song über Selbstbestim- mung geschrieben hatte Nerina Pallot Immigration nicht im Sinn. Als Regisseur Damian Weilers Nerina Pallot ansprach, dass er ihren Song als Soundtrack für
eine Dokumentation über die Flüchtlinge in Calais benutzen wolle, war sie einverstanden. So entstand schließlich das Video mit Footage aus dieser Doku. Für sie als Tochter einer Einwanderin ist es eine Herzensangelegenheit, auf die Situation der Flüchtlinge hinzuweisen, die so verzweifelt versuchen, nach Großbritannien zu kommen. Nerinas Mutter und ihre Großeltern sind aus Indien eingewandert und hatten Glück. Deshalb kann sie die Hoffnung der Migranten auf ein besseres, sicheres Leben nachvollziehen und deshalb ist ihr der Film so wichtig.