Wer mit Vivie Ann befreundet ist, hat keine Langeweile. Ich spreche da aus Erfahrung. Menschen, die Chaos nicht ertragen können, sollten sich lieber von ihr fern halten. Es ist ein wenig als hätte sie eine magnetische Anziehungskraft auf alles, was das Leben wild macht: Kleine und große Katastrophen, tragische Missgeschicke, große Liebe, absurde Glücks- und skurrile Unglücksfälle, mysteriöse Krankheiten, sonderbare Zufälle und die damit einhergehende permanente Schlaflosigkeit. „Irgendwas ist immer“ – dieser Satz trifft wohl auf niemanden besser zu als auf sie.
Wenn solch heftige Turbulenzen auf einen überemotionalen Menschen wie Vivie treffen, führt das zwangsläufig zu einer wilden Achterbahnfahrt zwischen Weltschmerz, Euphorie, Depression und Ausgelassenheit. Diese überbordenden Gefühle brauchen ein Ventil und Vivie hat ihres in der Musik gefunden. Jeder ihrer Songs erzählt eine Geschichte aus ihrem Leben. Nichts davon ist erfunden, konstruiert oder beschönigt. Die Menschen sind immer verblüfft, wie offen, ehrlich und direkt sie auf der Bühne aus ihrem Leben erzählt. Man ist es nicht gewohnt, dass jemand den Schutzschild, den wir alle im Alltag mit uns herumtragen, so vollständig fallen lässt. Doch Vivie kann das. In ihren Songs gewährt sie uns einen Blick auf den Grund ihrer Seele. So erzählt ihr neues Album „When The Harbour Becomes The Sea“ mehr über sie, als tausend Pressetexte es je könnten.
Beginnen wir am Anfang: In „Survivor“ singt Vivie von dem naiven, mutigen und kämpferischen Kind, das sie einmal war. Ihr erster Berufswunsch war damals nicht etwa Prinzessin oder Lokführerin, sondern „Weltbeschützerin“. Doch es ist kein leichtes Business mit dem Welt Beschützen. Die Nachbarschaft im Odenwald war nicht immer begeistert von den selbstgemalten Plakaten und Flugblättern, die sie im Ort verteilte. Doch schon damals zeigte Vivie, dass sie eine gehörige Portion Dickköpfigkeit aufbringen kann, um ihren Idealismus durchzusetzen. Die Bäume, die sie damals mit Gesichtern bemalte, damit sie nicht gefällt werden, stehen bis heute.
Als Tochter zweier Musiker kennt Vivie das unstete Künstlerleben von klein auf. Während ihre Eltern auf der Bühne standen, schlief sie im Keyboard-Case ihres Vaters. Doch das Leben „auf Tour“ führte nicht wie so oft zu einem Gefühl der Heimatlosigkeit – im Gegenteil: Vivie ist extrem stark verwurzelt in ihrer Familie. Mit „The Moor“ widmet sie einen Song ihren Geschwistern und den vielen Schuhen, die wohl noch immer im heimatlichen Moor feststecken.
Bereits mit zwölf Jahren stand sie mit ihren Eltern auf der Bühne. Sie galt schnell als gesangliches Ausnahmetalent, gewann Preise und Auszeichnungen, begann eigene Songs zu schreiben. Nach dem Abitur zog Vivie einem plötzlichen Impuls folgend nach Hamburg, um sich dort ganz ihrer eigenen Musik zu widmen. Sie fand schnell Anschluss in der dortigen Szene, probierte sich in alle Richtungen aus. Eine Zeit lang schien es, als ob ihr alle Türen offen stünden. Doch dann kam einmal mehr ihre merkwüdige Anziehungskraft auf Turbulenzen aller Art dazwischen. Ich erinnere mich noch gut – es begann kurz nachdem wir uns kennengelernt hatten. Plötzlich litt Vivie unter immer häufiger auftretenden krampfartigen Anfällen. Unerträgliche Kopfschmerzen, die im schlimmsten Fall mit Lähmungserscheinungen sowie Sprach- und Sehstörungen einhergingen. Lange Zeit wusste niemand Rat – die Ärzte tappten im Dunkeln und die Anfälle kamen immer häufiger. Schließlich stellte sich heraus, dass es sich um sogenannte „transitorisch ischämische Attacken“ handelte, eine Durchblutungsstörung im Gehirn, die unbehandelt innerhalb von kurzer Zeit zum Schlaganfall führt. Inzwischen scheint die Krankheit überwunden. Doch es ist Vivie sehr wohl bewusst, dass sie in dieser Zeit dem Tod einige Male nur knapp entronnen ist.
Wie so oft schärfte die Konfrontation mit der eigenen Endlichkeit den Fokus aufs Wesentliche. Vivie entschied, von nun an nur noch das zu machen, wofür sie wirklich brennt. Keine Kompromisse mehr, um dem Massenmarkt zu gefallen, sondern nur noch ihre eigene Vision von kunstfertiger Popmusik mit ehrlichen, englischen Texten und detailverliebten Arrangements. Dass dieser Weg zwar aufrichtiger, aber auch steiniger ist, musste sie schnell lernen. Zwar fand ihre Musik schnell ein begeistertes Publikum und sie feierte erste Erfolge als Support internationaler Größen wie James Morrison und Jessie Ware. Doch die großen Plattenfirmen blieben skeptisch. Der Markt verlangte damals nach deutschsprachigen Künstlern und Experimente wollte niemand wagen. Dass diese Ablehnung bei Vivie auch Selbstzweifel nährte, kann man in einem Song wie dem düsteren „Euphoria“ nachhören.
Doch Vivie ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Ihr Debutalbum „Flowers & Tigers“ erschien 2016 auf ihrem eigenen Label und schaffte es immerhin auf Platz 26 der itunes Pop-Charts. Und auch seitdem geht Vivie den Weg als waschechte Selfmade Künstlerin konsequent weiter. Über ein Crowdfunding sammelte sie für das zweite Album über 30 000 Euro. Dadurch ist sie in der Lage, vom Songwriting über die Produktion bis hin zum Coverdesign alles genau so umzusetzen, wie sie es selbst will. Dass Vivie ihr eigener Chef ist, bedeutet natürlich nicht, dass sie alles alleine macht. Über die Jahre hat sie eine wachsende Zahl an Freunden, Mitmusikern und Branchenprofis um sich geschart. So haben an der Entstehung von „When The Harbour Becomes The Sea“ u.a. die Produzenten Philipp Schwär (Käthe, Fynn Kliemann), Willy Löster (Joris, Leslie Clio) und Tobias Siebert (Juli, Kettcar, Me and My Drummer) mitgewirkt.
Dennoch klingt das Ergebnis unverwechselbar nach Vivie. Man kann die Stürme hören, die durch ihr Leben brausen („No End“, „Glow“), ihre wilde Romantik und ungebrochene Zuversicht („Windmills“), ihre glühende, ungezügelte Liebe. Eben diese nimmt einen besonders zentralen Platz in Vivies Musik und in ihrem Leben ein. Das ist nicht weiter verwunderlich. Vivie ist nicht nur selbst ein wunderschöner Mensch, sie fühlt sich auch schnell zu anderen schönen Menschen hingezogen. Und dann kommt eben dieses Yin und Yang Prinzip zum tragen: Wo viel Liebe ist, ist auch viel Kummer. Wer oft mit Vivie unterwegs ist gewöhnt sich an das Geräusch zerbrechender Herzen. Auch in ihren Songs ist dieses Geräusch immer wieder mal zu hören („Obsolete Majesty“, „Anytime“). Aber es gibt auch die erfüllte Liebe und auch die zelebriert Vivie überschwänglich und genau so kitschig, wie sie eben ist. („Until My Arms Break“)
„Cold Water“ ist eine Art Titeltrack des Albums und fasst am besten zusammen, worum es geht. In der Strophe singt Vivie offenherzig über das Chaos ihres Lebens, über all die großen und kleinen Katastrophen, bevor der Refrain mit unerwarteter Euphorie hervorbricht. „I´d do it all again, I´d do it all again.“ Das genau ist der Twist, durch den Vivie am Ende alles ins Positive wendet: Laut „Ja“ sagen zu all dem Chaos, dem Ungeplanten, Ungewollten, das vielleicht auf den ersten Blick wie eine Katastrophe wirkt. Ins kalte Wasser springen und schwimmen lernen. Wenn wir etwas von Vivie Ann lernen könne, dann ist es, wie man das Chaos bezwingt.